Mailand - Lyon Tag 3

Distanz

104 Kilometer

Höhenmeter

2.314 Meter

Tag drei, Susa - Saint Jean de Maurienne, 03.06.2015

104 Km, 2314 Hm

Vor der Abfahrt besprechen wir mit dem Wirt die geplante Route. Er rät zur normalen „neuen“ Straße, der S25, da diese weniger steil sei. Er meint auch, dass auf Grund des Feiertages nicht viel Verkehr sein würde und LKWs dürften ohnehin nicht mehr fahren. Dass wir von Moncenisio weg die geroutete Strecke zur Grenze fahren können glaubt er nicht, da diese nicht einmal auf seiner sehr detaillierten Karte vermerkt ist.

Es ist schließlich schon knapp nach 9 Uhr und die Sonne schon recht stark, als wir doch die ursprünglich geplante Route auf der alten Straße nach Moncenisio in Angriff nehmen. Bis Novalesa, das auf etwa 900 m liegt, geht es recht problemlos, danach beginnen die Kehren und vor allem wirklich steile Abschnitte. Es begegnen uns nur ein paar Autos, ein fit wirkender junger Rennradfahrer fragt mich beim Überholen, ob wir die Strecke denn kennen und wissen würden, dass es wirklich lang und steil wird.

Gebüsch, Wald, Blumenwiesen, dazwischen nackter Fels. Ein paar Echsen huschen über die Straße, Schmetterlinge tanzen in der Sonne. Der Himmel ist tiefblau, nur ab und zu ist eine Schäfchenwolke zu sehen; es ist heiß, ich bin schweißgebadet und über jeden Schatten eines Baumes froh. Wir müssen absteigen und schieben, was mit einem beladenen Rad auch recht anstrengend ist. Ein weiterer Rennradfahrer, dieser eher etwas älter als wir, quält sich vorbei; er hat nicht einmal Luft zum Grüßen übrig.

In Moncenisio, auf 1.450 Meter gelegen, machen wir ausgiebig Pause und finden auch gleich das einzige Lokal, eine Polenteria, also ein Restaurant, dessen Spezialität Polentagerichte sind. Wir verzichten aber darauf, uns den Bauch vollzuschlagen, da wir noch einige Höhenmeter vor uns haben und begnügen uns mit einem Müsliriegel.

Ich hatte schon gelesen, dass dies der kleinste Ort des Piemont sei, mit weniger als 50 gemeldeten Bewohnern und noch weniger tatsächlich dort lebenden. Der Wirt erzählt uns schließlich, dass nur 14 Personen das ganze Jahr über in Moncenisio leben, der Großteil der Häuser dient nur als Ferienunterkünfte. Vor allem die Winter seien wirklich ruhig, denn es gibt keine Wintersportmöglichkeiten und der Ort sei nicht immer erreichbar. Er selber hat früher in Turin einen Motorradshop betrieben, wollte aber etwas anderes machen. Als er erfuhr, dass dieses Restaurant in Moncenisio zu kaufen ist, hat er zugeschlagen und wohnt nun mit Frau und etwa zweijähriger Tochter, die das einzige Kind im Ort ist, dort ein ruhiges Leben. Was er im Winter mache, fragen wir ihn. Schnee schaufeln und Holz hacken antwortet er grinsend.

Wir fragen den Neo-Wirt nach der Strada Reale, der Verbindungsstraße, die wir geroutet haben und die von Moncenisio auf recht direktem Weg nahe an die französische Grenze führen soll. Er rät uns auch davon ab, da sie höchstens mit Mountainbikes und ohne Gepäck fahrbar sei. So fahren wir die 5 Km und 100 Hm auf der eigentlichen Zufahrtsstraße nach Moncenisio hinunter zur S25 und auf dieser wieder nach oben Richtung Frankreich.

Es ist tatsächlich nicht besonders viel Verkehr. Ein paar Camper, nicht allzu viele PKWs, natürlich Motorräder. Besonders auf der italienischen Seite ist die Straße schön ausgebaut. An einer Kehre mit einem verlassenen roten Haus befindet sich die Einmündung der ursprünglich geplanten Route ab Moncenisio, von der uns alle abgeraten haben. Zu Recht, erkennen wir; mit großen Felsplatten übersät ist es ist eher ein Wanderweg als eine Route für Trekkingräder.

Nach der Grenze kommt ein erstes kleines Hochplateau, danach geht es in Serpentinen eine Steilstufe hinauf zu einem weiteren kurzen flachen Teil, etwas unterhalb der Talsohle des großen Stausees, Lac du Mont Cenis, dessen Staumauer schon von Weitem zu sehen gewesen war. Etwa 100 Hm mehr und wir haben die mit 2083 Meter über dem  Meeresspiegel ausgeschilderte Passhöhe erreicht.

In einem Cafè-Restaurant rasten wir ein wenig und nehmen ein Sandwich als spätes Mittagessen zu uns, denn wir wollen nicht allzu viel Zeit verlieren, es warten noch rund 70 Km bis zum Etappenziel.

Wir starten die Abfahrt, zuerst noch entlang des Sees, dann lassen wir ihn hinter uns. Nach etwa 3 oder 4 Kilometern von unserer Raststation kommen wir an einem kleinen Parkplatz vorbei, von dem man einen letzten Blick auf den See erhaschen kann, bevor die Straße steil hinunterfällt. Da das Licht schön ist, möchte ich noch ein letztes Foto machen und halte an. Erst als ich die Kamera herausholen möchte, merke ich, dass meine Lenkertasche nicht da ist. Ich habe sie vor der Abfahrt auf einen  Tisch auf der Terrasse direkt an der Straße gestellt, während wir uns adjustiert haben – und offenbar dort stehen gelassen! Ich brülle – ich habe ja auch kein Handy, kein Geld, keine Papiere, keine Kreditkarte – und tatsächlich merkt Alois, der vorausgefahren ist, dass etwas nicht stimmt und kommt zurück.

Inzwischen habe ich eine Gruppe italienischer Motorradfahrer angesprochen, die ebenfalls gestoppt hatten und gerade dabei sind, wieder – in Richtung Italien – aufzubrechen. Ich versuche, mein Problem zu erklären und den einzigen Piloten mit einem Beifahrersitz dazu zu bringen, mich auf die Passhöhe mitzunehmen und auch wieder – hoffentlich mit der Lenkertasche – zurückzubringen. Der reagiert aber überhaupt nicht auf mein Ansinnen. Ein anderer erbarmt sich schließlich, erkundigt sich genau, wo ich die Tasche stehengelassen habe, wie sie aussieht etc. Glücklicherweise kann ich das recht präzise beantworten. Er fährt mit den anderen los und kommt tatsächlich alleine, aber mit meiner Tasche, zurück. Die Wirtsleute hatten sie schon in Sicherheit gebracht.

Ich bin natürlich heilfroh und sehr erleichtert (eigentlich paradox: man bekommt ein paar Kilo dazu und ist danach erleichtert), hatte mir auch schon vorgenommen, ihn zu fragen, wieviel ich ihm schulde bzw. jedenfalls ein Trinkgeld zu geben. Er kommt mir aber zuvor und fragte gleich ganz ungeniert um ein wenig Bier- und Benzingeld. Er erzählte, dass sie in wenigen Tagen 2000 Km gefahren waren, an diesem Tag schon 400 Km und noch eine Strecke vor sich hatten. Da verstand ich auch besser, dass sich niemand wirklich darum riss, extra Kilometer zu machen. Ich denke, schlussendlich waren wir beide zufrieden!

Mein Foto habe ich dann natürlich noch gemacht, bevor wir die Weiterfahrt antraten.

Gleich nach diesem Stopp fällt die Straße das erste Mal steil ab. Dort steht ein Monument, das an berühmte Überquerer dieses Passes erinnert: Hannibal (vermutlich), Karl der Große 773, Heinrich IV 1077 auf dem Gang nach Canossa, Napoleon Bonaparte (der in Moncenisio genächtigt haben soll) und die Teilnehmer der Tour de France, die bisher fünf Mal diesen Pass im Programm hatte. Hinzufügen sollte man dieser Aufzählung auch noch Alberto Garelli, der im Jänner 1914, von der italienischen Seite aus, bei klirrender Kälte den tiefverschneiten Pass mit seinem ersten selbst gebauten Motorrad bezwang, ein Unternehmen, das zu dieser Zeit als unmöglich galt. Mir ist Garelli jedenfalls als Hersteller von Mopeds und Kleinmotorrädern aus meiner Jugendzeit noch ein Begriff.

Nach etwa 10 Km und auf einer Höhe von rund 1.400 Metern kommen wir nach Lanslebourg, wo wir die ersten Skilifte sehen und wo sich die Straße teilt. Nach NO führt sie in die bekannten Skigebiete Val-d’Isère und Tignes, wir aber wenden uns nach Westen, denn unser Tagesziel heißt St-Jean-de-Maurienne. Die Fahrt ist landschaftlich immer wieder reizvoll: Entlang eines Flusses, der sich tief in eine Schlucht eingegraben hat, sodass man ihn kaum sieht, am steilen Ufer eine mächtige Burg; Bauernhöfe, Schafherden, Rinder, immer wieder Birkenhaine, ländlich-alpine Gegend.

Je weiter wir das Tal hinauskommen, desto mehr nimmt auch der Verkehr zu und es gibt immer wieder Strecken, wo wir parallel und sehr nahe zur Autobahn fahren. Theoretisch fahren wir immer bergab – St-Jean liegt auf rund 500 Metern -, aber natürlich ist es ein ständiges Auf- und Ab. Wirklich unangenehm ist der Gegenwind, den wir auf den letzten 40 Km ständig haben und der es notwendig macht, auch bergab immer wieder zu treten um nicht stehenzubleiben. So sind wir erst um etwa 8 Uhr abends im Hotel – und ziemlich fertig!

Beim Abendessen folgen wir der Empfehlung des Hotels – wir wollten „typische“ Küche. Ich esse ausgezeichnete Schweinswürstchen mit Pasta, ähnlich unseren Fleckerln aber kleiner, und einer exzellenten Sauce.